Die Therapie von Patienten mit mehrfachen vorderen Schulterluxationen des Schultergelenkes stellt für die Behandler eine große Herausforderung dar. Die meist durch eine anatomische Weichteilrekonstruktion (Labrumrekonstruktion n. Bankart) versorgte primäre vordere Schulterluxation weist vor allem bei jungen Patienten eine hohe Reluxationsrate auf.
Aber auch zunächst konservativ behandelte vordere Instabilitäten können über wiederholte Luxations- bzw. Subluxationsereignisse einen knöchernen Defekt der Gelenkpfanne entwickeln, der mit einer reinen „Weichteiltechnik“ nicht suffizient zu stabilisieren ist.
Mit der arthroskopischen Operation nach Latarjet steht eine Operationstechnik zur Verfügung, um sowohl die knöcherne Problematik als auch die weichteilige Hypermobilität erfolgreich zu behandeln. In der Klinik am Ring wurden in den vergangenen 10 Jahren über 400 Patienten von Dr. Alexander Lages mit diesem minimalinvasiven Verfahren erfolgreich versorgt.
Wir möchten Ihnen in dieser Ausgabe von IM FOKUS eine Übersicht über die arthroskopische Operation nach Latarjet von der Historie über die derzeitige Indikationsstellung bis zur Durchführung und Nachbehandlung geben.
Bereits 1954 beschrieb der Franzose Michel Latarjet den Transfer des Processus coracoideus mit den Sehnenursprüngen des M. biceps brachii caput breve und des M. coracobrachialis („conjoint tendons“) an den vorderen Pfannenrand des Schultergelenkes.
Im angloamerikanischen Raum verbreitete sich die Technik in abgewandelter Form als Bristow-Helfet-Operation.
Die Operation nach Latarjet verändert die Anatomie des Schultergelenkes zugunsten der vorderen Schulterstabilität, indem das Zusammenspiel der anatomisch-funktionellen Partner (Subskapularis und „conjoint tendons“) modifiziert wird.
Einerseits wird der Substanzdefekt am ventralen Glenoid durch die knöcherne Augmentation ausgeglichen, wodurch auch das Risiko des Einhakens eines Hill-Sachs-Defektes reduziert wird. Andererseits sorgt der sogenannte „Sling-Effekt“ für einen plastischen Ersatz der ehemaligen Gelenkkapsel.
Dieser erklärt sich durch die Passage des Coracoids durch den M. subscapularis.
Durch die am Coracoid anhängenden Sehnen des kurzen Bizepskopfes und der Sehne des M. coracobrachialis wird der untere Anteil des M. subscapularis umschlungen. Hierdurch entsteht vor allem in der Außenrotations-Abduktionsstellung eine effektive Weichteilschlinge mit Verkleinerung der ehemaligen großen Luxationstasche.
„Sling Effect“ durch Umschlingung des unteren Subscapularis-Anteils
Coracoidtransfer an den vorderen Pfannenrand
Zahlreiche Untersuchungen der letzten Jahrzehnte belegen die hohe Effizienz dieser Operationstechnik hinsichtlich der Schulterstabilität.
Im deutschsprachigen Raum wurde die Operation nach Latarjet anfänglich häufig bei operativen Revisionen eingesetzt, da die klassische Operation nach Bankart eine insbesondere bei jungen Patienten hohe Reluxationsrate zur Folge hatte.
Aber auch die zunehmende Berücksichtigung und Quantifizierung von knöchernen Verlusten des Glenoids und die Betrachtung der Hill-Sachs-Delle zeigte die Notwendigkeit der knöchernen Augmentation.
Hill-Sachs-Delle (grüner Pfeil), Bankart-Läsion (roter Pfeil)
Erheblicher Knochenverlust des ventralen Glenoids
Galt bis vor Kurzem noch die kritische Grenze von 20-25% Knochenverlust am Glenoid, zeigen neuere Studien einen deutlich geringeren Wert von 13% als den kritischen Grenzwert, bei dessen Überschreitung ein knöcherner Aufbau des Glenoids absolut indiziert ist.
Mittlerweile wird nicht nur die radiologische Beurteilung für die Indikationsstellung genutzt. Balg und Boileau veröffentlichten bereits 2007 den „Instability Severity Index Score“, der einerseits den radiologischen Befund bewertet als auch die Patienten nach Alter, Aktivität und Veranlagung berücksichtigt. Aus diesen Gründen ist die Operation nach Latarjet in zunehmendem Maße auch für die Primärversorgung nach Schulterluxation indiziert.
Prognostische FaktorenPunktezahlAlter< 20 Jahre> 30 Jahre 20Grad der SporttätigkeitFreizeit/kein SportWettkampfsport 20SportartKontaktsport oder ÜberkopfsportAndere 10SchulterhyperlaxizitätSchulterhyperlaxizität (ant. oder inf.)Normal 10Hill-Sachs auf a.p. Röntgen sichtbarSichtbar in AußenrotationNicht sichtbar in Außenrotation 20Glenoidsubstanzverlust a.p. RöntgenKonturunregelmäßigkeitunauffällig 20Gesamtpunkte10
≤ 6 Punkte: Arthroskopische Bankart-Operation
≥ 7 Punkte: Arthroskopische Operation nach Latarjet
Die Operation nach Latarjet kann offen chirurgisch und arthroskopisch durchgeführt werden. Die arthroskopische Durchführung beruht im Wesentlichen auf der Entwicklung der speziellen Operationstechnik und des speziellen Instrumentariums durch L. Lafosse. Die arthroskopische Technik weist im Gegensatz zu der herkömmlichen offenen Vorgehensweise erhebliche Vorteile auf. So profitieren die Patienten von einer geringeren Zugangsmorbidität und verspüren deutlich weniger postoperative Schmerzen. Auch das geringere Infektrisiko, eine reduzierte Narbenbildung und die Möglichkeit einer gleichzeitigen Therapie von Begleitverletzungen (Bizeps, Rotatorenmanschette) sprechen für die arthroskopische Operationsmethode.
Zweifelsfrei ist die arthroskopische Operation nach Latarjet eine der anspruchsvollsten Operationen der Schulterchirurgie. Die Nähe zum Nervus axillaris und Plexus brachialis, aber auch die korrekte Platzierung des Prozessus coracoideus am Glenoid nach M. subscapularis-Split stellen einen hohen Anspruch an den Operateur.
Die Operation wird in „beach-chair“-Lagerung durchgeführt. Die Präparation geschieht stumpf oder mit der Radiofrequenzsonde, um Blutungen zu minimieren.
Zunächst erfolgt die Identifikation der vorliegenden Pathologie mit Lokalisation und Bestimmung der Weichteilschädigung und der Darstellung des Knochendefektes des ventralen Glenoids. Häufig handelt es sich um ältere knöcherne Bankart-Läsionen.
Nach Präparation und Vorbereitung des Glenoidrands und des anterioren Skapulahalses wird das Rotatorenintervall eröffnet und das Coracoid dargestellt. Wichtig ist hierbei die Darstellung und Identifizierung des N. axillaris, um eine iatrogene Schädigung zu vermeiden.
Darstellung des Nervus axillaris
Nach Platzierung von zwei parallelen K-Drähten durch das Coracoid werden diese überbohrt und mit Verstärkungshülsen („top hats“) versehen.
„top hats“-Verstärkungshülsen am Coracoid
Nach Durchführung des Subscapularis-Splits, einer horizontalen Eröffnung des Muskelbauches im unteren Drittel des M. subscapularis, wird die Osteotomie des Coracoids vorgenommen.
Dieses wird mithilfe eines speziellen Setzgerätes durch den Subscapularis-Split an den vorderen Glenoidrand positioniert und mittels zweier Schrauben stufenfrei fixiert.
PhasenbeschreibungTherapie / AnwendungenPhase 1
(1.-2. Woche)
Im Vergleich zum Bankart-Repair ist eine sofortige Mobilisation möglich. Es handelt sich um eine knöcherne Fixierung mit hoher primärer Stabilität.
Proliferationsphase
Akut-/Entzündungsphase
Phase 2
(3.-6. Woche)
Knöcherne Heilung / Stabilisation des Coracoids.
Phase 3
(ab etwa 7. Woche)
Nach radiologischer Kontrolle ggf. mittels CT ist von einer knöchernen stabilen Heilung auszugehen.
Durch die Veränderung der Anatomie muss der Patient bestimmte endgradige Bewegungen neu erlernen.
Volle Sportfähigkeit ist wesentlich früher als bei der klassischen Bankart-OP möglich.
Dennoch sollte ein sportartspezifischer Belastungsaufbau erfolgen.
Es handelt sich häufig um eine Operation bei Patienten mit multiplen Luxationsereignissen präoperativ. Hierdurch sind kompensatorische Bewegungsmuster präoperativ vorhanden.Im Idealfall lernen Sie den Patienten demnach bereits vor der Operation kennen. So können Sie die Bewegungsmuster verstehen, die sich die Patienten manchmal jahrelang aus Vorsicht vor Luxationen antrainiert haben und die durch koordinatives Training zu einer Normalisierung der Bewegungsausführung beitragen.
Dr. A. Lages auf dem AGA Kongress 2017
Seit 2012 wurden in der Klinik am Ring bereits ca. 400 Patienten bei vorderer Schulterinstabilität mittels arthroskopischer Operation nach Latarjet versorgt.