Im klinischen Alltag begegnen uns immer wieder Patienten mit unklaren Schulterschmerzen, die zudem über eine Kraftabschwächung klagen. Als Folgen treten teils erhebliche Beeinträchtigungen und ein steigender Leidensdruck auf.
Finden sich bei klinischer Untersuchung und Bildgebung keine eindeutigen Ursachen wie etwa eine Sehnenschädigung oder eine Radikulopathie der HWS, sollten mögliche Pathologien der peripheren Nerven und/oder des Plexus brachialis differentialdiagnostisch in Betracht gezogen werden.
Die häufigste Neuropathie am Schultergelenk ist das Nervus suprascapularis-Syndrom. Nachfolgend möchten wir Ihnen eine Übersicht dieser differentialdiagnostisch wichtigen Thematik bei Schulterbeschwerden von der Diagnose bis hin zu den Behandlungsmöglichkeiten geben.
Als Nervus suprascapularis-Syndrom bezeichnet man die Druckschädigung des Nervus suprascapularis in der Incisura scapulae unter dem Ligamentum transversum scapulae superius und seltener in der supraglenoidalen Notch unter dem Lig. spinoglenoidale. Für die primäre Entstehung einer solchen Kompression sind neben anatomischen Normvarianten der Incisura scapulae (s. Abb.1) auch repetitive Mikrotraumata bei Überkopfsportlern verantwortlich. So kommt es z. B. beim Tennis oder Volleyball durch die immer wiederkehrende Ausholbewegung beim Aufschlag bzw. Schmettern zu einer extremen Rück- und Vorwärtsdrehung der Skapula mit entsprechender Belastung des Nervs.
Studien zeigen, dass zwischen 30-45 % der professionellen Tennis- und Volleyballspieler ein Entrapment des Nervus suprascpularis aufweisen!
Sekundär können Ganglien der spinoglenoidalen Notch zu einer chronischen Nervenschädigung führen. Diese Ganglien entstehen meist über einen Ventilmechanismus im Rahmen einer okkulten posterioren oder superioren Labrumläsion.
Weitere sekundäre Ursachen können durch raumfordernde Prozesse (Tumore, verknöchertes Ligamentum transversum), traumatisch (Hämatome, Schulterluxation, Massenrupturen der Rotatorenmanschette) oder auch iatrogen (Z.n. Rotatorenmanschettenrekonstruktion) bedingt sein.
Die Diagnose eines Nervus suprascapularis-Kompressionssyndroms ist oftmals schwierig, da die Symptome einer suprascapularen Neuropathie meist denen von gängigen Schulterpathologien oder Wurzelkompressionssyndromen der HWS ähneln. Sie sollte jedoch bei jedem Patienten mit ungeklärten, posterioren Schulterschmerzen in Betracht gezogen werden, vor allem wenn anamnestisch eine regelmäßige Überkopfaktivität angegeben wird.
Die Patienten geben typischerweise einen unspezifischen, tiefen, dumpfen und andauernden Schmerz im dorsolateralen Bereich der Schulter an, der in den Arm oder den Nacken ausstrahlen kann. Bei Überkopfbelastung beim Sport, bei der Arbeit oder beim Liegen auf der Schulter verstärkt sich der Schmerz. Der Symptombeginn ist meist schleichend.
Da der N. suprascapularis als gemischter Nerv sowohl motorische als auch sensorische Fasern enthält, können je nach Schädigungsort unterschiedliche Symptome auftreten: Ist der Hauptstamm des Nervs im Bereich der Inzisur betroffen, liegt eine Atrophie der Musculi supra und infraspinatus vor, einhergehend mit o. g. Schmerzsymptomatik. Liegt die Schädigung weiter distal in der spinoglenoidalen Notch, kommt es zu einer isolierten Atrophie des M. infraspinatus ohne Schmerzhistorie.
Bei der klinischen Untersuchung muss eine komplette Untersuchung des glenohumeralen und acromioclavicularen Gelenks erfolgen, um begleitende Pathologien auszuschließen. Oft führt die Adduktion und Innenrotation beim Patienten zu einer Schmerzauslösung, da hierbei die Spannung des spinoglenoidalen Bandes erhöht wird und die Nervenkompression zunimmt.
Zwei hilfreiche Untersuchungstest sind der suprascapulare Dehnungstest n. Lafosse und der Cross Arm-Adduktionstest n. Plancher (siehe unten „Aus der Praxis für die Praxis“). Zusätzlich dienen Injektion von Lokalanästhetika in die suprascapulare oder spinoglenoidale Notch zu einer weiteren Differenzierung und Abgrenzung anderer Schulterpathologien.
Konventionelle Röntgenaufnahmen (ap, Y-view und axial) der Schulter dienen zum Ausschluss von Frakturen und Knochentumoren. Zur Darstellung der Notch können zusätzlich spezielle Röntgenaufnahmen nach Stryker und Zanca angefertigt werden. Die entscheidende Untersuchung in der Diagnostik eines suprascapularen Kompressionssyndroms ist jedoch die Magnetresonanztomographie. Bereits im Frühstadium kommt es zum Muskelödem mit geändertem Signalverhalten der Muskulatur im MRT.
Mit ihr lassen sich außerdem obstruktive Veränderungen wie paralabrale Zysten oder Tumore erkennen. Zysten sind die häufigste Ursache für ein sekundäres Kompressionssyndrom und können im Rahmen einer SLAP 2-Läsion, eines posterosuperioren Impingements oder einer hinteren Schulterinstabilität entstehen.
Liegt der Verdacht eines Kompressionsyndroms vor, liefern neurologische Messungen wie die Elektromyografie und die Elektroneurografie den Nachweis dafür. Zusätzlich sind Aussagen über den Ausprägungsgrad der Nervenläsion, das Regenerationspotenzial und die Läsionshöhe möglich.
Entscheidend für die Behandlung einer suprascapularen Neuropathie ist die Beachtung der zugrunde liegenden Ätiologie.
Wenn keine Strukturen oder Verletzungen dargestellt werden können, die zu einer Kompression des Nervs führen, und der Verdacht auf eine Irritation durch Überlastung des Nervs besteht, wird zunächst eine konservative Behandlung empfohlen. Hierbei gilt es, Überkopfaktivitäten zu vermeiden und gleichzeitig eine gezielte physiotherapeutische Beübung zu beginnen. Wichtig sind hierbei zum einen die Verbesserung der Schulterbeweglichkeit und zudem die Kräftigung der periscapulären und deltoidalen Muskulatur. Ergänzend erfolgt eine antiinflammatorische Therapie mit NSAR. Eine systemische Steroidtherapie hat nach aktueller Studienlage keinen positiven Effekt.
Wenn die konservative Behandlung keinen Erfolg zeigt, sollte mit dem operativen Vorgehen nicht zu lange gewartet werden, um irreparable Nervenschäden zu vermeiden. Vor allem, wenn schon deutliche Atrophien oder ursächlich raumfordernde Prozesse vorliegen, besteht die Gefahr, dass Muskelmasse und Kraft nicht wiederhergestellt werden können. Hier sollte bei einer Symptomdauer länger als 6 Monate die operative Behandlung angestrebt werden.
Die operative Therapie ist indiziert, wenn eine strukturelle und reversible Ursache einer Einklemmung oder Irritation des Nervus suprascapularis vorliegt. Bei ausgeprägten Rotatorenmanschettenrupturen der Supraspinatussehne wird entweder nur die Sehnenruptur selbst rekonstruiert, um die Traktion auf den Nerv zu reduzieren, oder es wird zusätzlich eine Dekompression des Nervs durchgeführt. Auch bei einem Versagen der konservativen Therapie eines Suprascapularissyndroms ohne strukturelle Ursache kann die operative Entlastung des Nervs zu einer Beschwerdelinderung bzw. -freiheit führen.
Prinzipiell stehen zwei Verfahren zur Verfügung:
Die offene Dekompression oder das arthroskopische Vorgehen.
Aufgrund der deutlich geringeren Gewebetraumatisierung und der besseren Visualisierung ist die arthroskopische Technik gegenüber einer offenen Vorgehensweise zu bevorzugen. Ein weiterer Vorteil der Arthroskopie ist, dass die für die raumfordernden Zysten meist ursächlichen Labrumläsionen in gleicher Sitzung versorgt werden können.
Der Eingriff wird in Beach-Chair-Postion durchgeführt. Eine entscheidende Rolle für die Operation ist eine optimale Narkose in Kombination mit einer Plexusanästhesie, um blutungsbedingte Sichteinschränkungen zu reduzieren.
Die Dekompression der scapulären Notch mit Durchtrennung des Ligamentum transversum superius erfolgt von glenohumeral, die Entlastung weit nach medial reichender spinoglenoidalen Zysten erfordert oft ein subacromiales Vorgehen.
Die arthroskopische Technik ist bei entsprechend erfahrenen Operateuren ein sicheres Verfahren und es treten nur selten Komplikationen auf.
Postoperativ wird die betroffene Schulter für 2 Tage zur Schmerztherapie in einer Immobilisationsorthese ruhiggestellt. Am 1. postoperativen Tag ist eine assistive Beübung bis 30° Außenrotation und 90° Abduktion möglich. Vom 2. postoperativen Tag bis zum Ende der 3. postoperativen Woche ist die aktivassistive Beübung bis zur Schmerzgrenze freigegeben. Ab der 4. Woche liegt der Fokus auf der aktiven Übungsbehandlung bei freiem Bewegungsausmaß. Die volle Sportfähigkeit ist nach 8 Wochen erreicht. Bei posteriorer Labrumrefixation ist eine angepasste Rehabilitation in einer Thoraxabduktionsorthese für 3 Wochen und einer Limitierung der Innenrotation und Anteversion für 6 Wochen erforderlich. Die volle Sportfähigkeit ist in diesen Fällen erst nach 6 Monaten erreicht.
Die Ergebnisse nach arthroskopischer Dekompression des N. suprascapularis sind gut. Nach einer systematischen Literaturrecherche von Moen et al. 2012 konnte bei einer Durchtrennung des Lig. transversum der Schmerz bei 80–96 % der Patienten signifikant reduziert werden. Eine postoperative Kraft und Funktionsverbesserung wurde in 80 % der Fälle für den M. supraspinatus und in 50 % der Fälle für den M. infraspinatus beschrieben.
Die Dekompression spinoglenoidaler Zysten in Kombination mit Versorgung einer posterioren Labrumläsion führte bei allen Patienten zu einer Rückkehr zu den ursprünglichen sportlichen und beruflichen Aktivitäten.
Provokationstests bei suprascapularen Entrapments:
Spezielle Tests zur Provokation einer Nervus suprascapularis-Schädigung sind der suprascapulare Stretch-Test und der Cross Arm-Adduktionstest.
(A) Beim suprascapularen Dehnungstest steht der Untersucher hinter dem Patienten und hält die schmerzhafte Schulter in einer Retraktion. Gleichzeitig führt er mit dem Patienten eine kontralaterale Rotation der HWS aus. Tritt ein posteriorer Schmerz auf, ist der Test positiv und kann einen Hinweis auf eine Läsion des Nervus suprascapularis geben.
(B) Beim Cross Arm-Adduktionstest wird der Patient aufgefordert, mit dem Arm der betroffenen Schulter eine Hyperadduktion bei gleichzeitiger Innenrotation durchzuführen. Auch dieser Test gilt als positiv, wenn ein Schmerz im hinteren Schulterbereich auftritt.